Meer des Schweigens by Grädler Iris

Meer des Schweigens by Grädler Iris

Autor:Grädler, Iris [Grädler, Iris]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Roman
ISBN: 9783832188313
Herausgeber: Dumont
veröffentlicht: 2015-03-12T00:00:00+00:00


17

»Hühnersuppe für die Seele. Kennen Sie die Bücher, meine Liebe?«

»Nein.«

Elisabeth stand neben dem Esstisch, den Martha Fridge eindeckte, und betrachtete eins der vielen Bilder, die in der riesigen Loftwohnung hingen und hintereinandergestapelt an den Wänden lehnten. Kaum ein Stück Wand war frei. Wohnraum, Essecke, Küche, Arbeitszimmer und Atelier waren auf einer Ebene, nur durch spanische Wände voneinander abgegrenzt. Lediglich zum Schlafzimmer gab es eine Tür.

Damit der Rauch nicht die Träume verpestet, hatte ihr Martha beim Rundgang erklärt. Ein Balkon umsäumte die Wohnung. Über eine Treppe gelangte man von dort in einen kleinen Garten, von einer Hecke umschlossen, mit einem Pool und einer mit Wein umrankten Laube.

Mein Nudistenparadies, hatte Martha verschmitzt erklärt.

Elisabeth versuchte sich ihren Bruder in diesem lichtdurchfluteten Raum vorzustellen, der vor Sinnlichkeit zu vibrieren schien. Leise Klaviermusik sickerte aus einer Ecke. Vor einer der Fensterfronten schossen Palmen und Farne bis an die hohe Decke. Dazwischen standen mit herausfordernden, zugleich kindlichen Gesichtern zwei Nackte aus Stein und ein mit Mosaiken dekorierter Springbrunnen, in dem das Wasser schläfrig rauschte. Eine Chaiselongue, dicke Sitzkissen und eine Hängematte luden in dem grünen Dschungel zum Faulenzen und Träumen ein. Es duftete nach Blumen.

Elisabeth wähnte sich an einem Ort fern aller Realität. Nichts schien hier einzudringen. Kein Alltagsgrau, kein Unbill, kein dunkler Ton. Als würde alles von den weichen orientalischen Teppichen geschluckt. Jeder Missklang.

Hatte sich Anthony hier geborgen gefühlt? Hatte er in diesem luftigen Raum zu atmen begonnen, ein Kellerbewohner, der in ein oberes Stockwerk katapultiert worden war und zum ersten Mal den weiten Himmel wahrnehmen konnte? Hatte sie sich nicht selbst auch immer an Orte wie diesen gewünscht wie in ein Märchenschloss?

Manchmal hatten sie abends zusammen auf Anthonys Bett gesessen und von Plätzen gesprochen, wo sie eines Tages gerne leben wollten. Eine Burg in den Highlands von Schottland. Eine Schilfhütte auf einer Insel in den türkisen Weiten des Pazifik. Ein Schloss weit oben in irgendeinem Gebirge, die Wolken zum Greifen nah. Sie träumte, wie Mädchen träumen, von Himmelbetten, begehbaren Kleiderschränken, Zofen, die ihr das Haar jeden Morgen flochten, einem nicht endenden Tanz und wie sich das Licht von Kronleuchtern in ihrem lachenden Gesicht spiegelte.

Anthony träumte nur eine Zeit lang ganz Junge von Piratenschiffen, Ritterspielen und wie er in fernen Urwäldern unermessliche Schätze entdeckte. Später wünschte er sich nur noch, endlich erwachsen zu sein, um die Tür für immer hinter sich zu schließen und aus dem Dunkel ins Helle zu treten. Und noch viel später schloss er seine Träume, so er noch welche hatte, in seinem Herzen ein, und in seinen Augen brannte nichts als das Feuer seiner Wut, ja seines Hasses.

Elisabeth konnte sich vorstellen, was Anthony in dieser aus Zeit und Raum entrückten Wohnung einer Martha Fridge gesehen hatte. Eine Fluchtburg. Ein Ort, wo er sich einbilden konnte, jemand anderes zu sein. Wo er ein anderes Leben führen konnte wie in einer Theaterkulisse.

War es ihnen nicht beiden im Grunde immer darum gegangen? Sich nicht nur woanders hinzuträumen, an einen schöneren Ort, sondern damit auch in eine andere Haut hinein?

»Na, wie dem auch sei, meine Liebe.



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